Kindheits- und Jugenderinnerungen unseres Mitglieds Frau Maria Staudt aus Stettfeld

Foto: Karl Müller. Untere Mühle Stettfeld

Geboren bin ich im Jahr 1938. Mein Vater wurde 1939 zum Kriegsdienst nach Russland einberufen. In dieser Zeit wurden Kleinkinder erst ab drei Jahren im Kindergarten angenommen. Meine Mutter arbeitete in der Zigarrenfabrik. Wohl den Familien, die in solchen Situationen noch Großeltern wie wir hatten. Da war auch noch mein Bruder Heinz, der 1933 geboren war, und meine demente Großmutter. Sie starb 1942 im Alter von 73 Jahren. Daher hatte mein damals 78jähriger Großvater so allerhand am Halse hängen. Sehr von Vorteil war in den Zigarrenfabriken damals die gleitende Arbeitszeit. Die Frauen konnten kommen und gehen wann sie wollten und konnten. So wurde morgens, wenn die Kinder im Kindergarten und in der Schule waren, bevor es zur Arbeit ging noch das Essen vorgekocht.

1941 wurde ich im Kindergarten im St. Josefshaus (siehe Foto) angenommen, das war für mich ein Graus. Es gab in dieser Zeit ja kaum Spielsachen. Jeden Tag mussten wir ungefähr eine Stunde  schlafen. Im Sommer war es dann schöner, da war im Hof des Kindergartens ein Sandkasten, wo das Spielen schon abwechslungsreicher war.

Für die Kinder, deren Väter im Krieg in Russland waren, gab es so manche Weihnachten kein Geschenk. Wir hatten das große Glück, eine Tante zu haben, eine Schwester meines Vaters, die zwar selber vier Kinder hatte, die aber, wenn sie hörte, dass meine Mutter für uns kein Weihnachtsgeschenk hatte, ganz schnell etwas organisierte. Der Onkel war handwerklich sehr begabt, das hatten auch die beiden schon älteren Söhne geerbt. Da wurde in der Werkstatt plötzlich gefeilt und geschreinert. Das Resultat konnte sich sehen lassen. So war die Überraschung und Freude an Weihnachten bei uns enorm. Ich bekam ein Bügeleisen, sogar mit Holzgriff, das konnte ich auf den Herd stellen zum Erhitzen und damit meine Puppenkleider bügeln. Mein Bruder Heinz, man höre und staune, bekam ein Paar original handgemachte Ski. Wer hatte in dieser Zeit schon Ski?

In diesen Jahren war nachts oft Fliegeralarm, wo wir schnellstens aufstehen und in den Keller mussten. Wir wohnten ja in der Nachbarschaft der unteren Mühle Woll, wo ein Luftschutzkeller war, in den auch die Nachbarschaft  durfte. Nachdem der Krieg 1945 beendet und Deutschland von den Alliierten besetzt war, wurden bei der Familie Oskar Woll zwei junge französische Offiziere einquartiert. Diese waren sehr kinderfreundlich und schenkten uns Schokolade und Orangen. Das waren die ersten Orangen, die wir zu sehen bekamen.

Unser Jahrgang 1938 wurde 1945 auch eingeschult (siehe Foto). Von Schultüten hatten wir keine Ahnung, es war einfach ein Tag wie jeder andere. Wir waren in dieser Zeit einer der größten Jahrgänge in Stettfeld, 22 Mädchen und 11 Buben. Außerdem  waren wir eine besonders lebhafte Klasse, dazu leisteten im Besonderen wir Mädchen unseren Beitrag. Da im Krieg viele Junglehrer gefallen waren, wurden intelligentere junge Männer im Schnelldurchlauf in wenigen Wochen zum Lehrer ausgebildet. Natürlich bekamen auch wir einen solchen! Da unsere Klasse in der Stettfelder Volksschule keinen guten Ruf hatte, wollte uns kein Lehrer haben. So hatten wir tatsächlich in acht Schuljahren sieben verschiedene Lehrer. In der siebten und achten Klasse bekamen wir wieder einen neuen Lehrer, Hauptlehrer Rudolf Schnepf. Er hatte eine Glatze und trug eine weiße Kutte. Wir hatten das vorher noch bei keinem anderen Lehrer gesehen. Als er das erste Mal zur Tür hereinkam, fingen wir alle zu lachen an, anstatt „Guten Morgen, Herr Lehrer!“ zu sagen. Da hatten wir aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Buben saßen vorne, die Mädchen dahinter, er schnappte sich gleich die ersten fünf oder sechs Jungs und ohrfeigte sie rechts und links. So hatte er uns in der ersten Minute gezeigt, wo der Bartl den Most holt: Von dieser Minute an wussten wir, dass jetzt ein anderer Wind weht. In den zwei letzten Jahren bei Hauptlehrer Rudolf Schnepf haben wir wahrscheinlich mehr gelernt als in den anderen sechs Jahren davor. So konnten wir, doch noch einigermaßen auf das kommende Leben vorbereitet, 1952 aus der Volksschule entlassen werden.

Es gibt da noch eine schöne Anekdote: Immer wenn unser Lehrer ausfiel, hatten wir mit dem ein Jahr älteren Jahrgang Unterricht. So waren wir in der zweiten Klasse und hatten zusammen mit der dritten Klasse Unterricht. In dieser Klasse war ein Junge, dessen Eltern eine Gärtnerei hatten. Als er Tatzen bekommen sollte, rannte er zur Tür hinaus. Gleich darauf ging die Tür wieder auf und der Junge streckte den Kopf herein und sagte zur Lehrerin: „Zahl du mol ärschd dein Busch Salad bei uns“ (zahle du mal erst deinen Busch Salat bei uns). Und weg war er.

Nach der Schulentlassung mussten wir Mädchen noch zwei Jahre in eine Fortbildungsschule (Kochschule). Diese war damals im Keller des St. Josefhauses in Stettfeld. In Langenbrücken gab es in der Zeit eine neue moderne Fortbildungsschule, wo wir dann einmal in der Woche Unterricht hatten. Neu an dieser Schule war, dass man die Schule täglich besuchen konnte und dann in einem Jahr fertig war. Da wir aber so schnell als möglich Geld verdienen wollten, machte nur ein Mädchen von uns davon Gebrauch. Die Zeit des Schulbesuches wurde vom Arbeitgeber nämlich nicht bezahlt.

Nach Kriegsende gab es in der alten Kochschule im St. Josefshaus das von den Amerikanern finanzierte Projekt „Schülerspeisung“. Diese wurde von Frau Barbara Wagner geb. Michenfelder in einem großen Schlachtkessel gekocht und täglich in der Frühstückspause um 9.30 Uhr ausgegeben. Da gab es Reiseintopf mit Rindfleisch, Linseneintopf, Bohneneintopf, Grießbrei mit Rosinen und Kakao mit Ofennudeln. Letzteres hat allen Schülern am besten geschmeckt. Einmal in der Woche bekam jedes Kind noch einen Esslöffel Lebertran. Vorher wurden die Schüler vom Lehrer gewogen, so dass in den ersten Wochen nur die Kinder, die Untergewicht hatten, in den Genuss der Schülerspeisung kamen. Nachdem dann alles gut angelaufen war, kamen sämtliche Schüler in deren Genuss.

 

 

In den Jahren nach der Schulentlassung gab es immer noch keine Ausbildungsplätze, wenn man nicht gerade Beziehungen hatte, schon gar nicht für Mädchen. Auch in einen Betrieb zu kommen, hatte man keine Chance. Das einzige,  was einem blieb, war, in einem Haushalt zu arbeiten. So kam ich mit vierzehn Jahren in einen Haushalt mit Café und Lebensmittelgeschäft. Die Bezahlung war 30 Mark im Monat, dazu Mittag- und Abendessen, nicht sozialversichert und keine Urlaubstage. Arbeitszeit von morgens 7 Uhr bis abends 19 Uhr. Pausen waren die Essenszeiten. Samstags von 7 Uhr bis 13 Uhr, sonntags von 7 Uhr bis 13 Uhr und abends von 18 Uhr bis 21 Uhr. Es musste doch das Geschirr vom Café gespült werden, das sich im Laufe des Mittags angesammelt hatte.

Von dem angesparten Monatslohn kaufte ich mir 1952 im Fahrradhandel Karl Woll in der Hauptstraße, heute Schönbornstraße, in Stettfeld ein grünes Sportfahrrad der Marke „Rixe“ für 280 Mark und zahlte es monatlich mit 25 Mark ab. Bis ich mir mit 26 Jahren ein Auto leisten konnte, war das „Rixe“-Fahrrad mein ganzer Stolz. Nur ganz wenige junge Menschen hatten solch ein Fahrrad.

Langsam erholte sich die Industrie und ich bekam nach einem Jahr einen Arbeitsplatz in einem Nähbetrieb. Der Anfangsstundenlohn betrug 36 Pfennige. Nach sechs Wochen Anlernzeit wurde im Akkord genäht. Da hatte ich wenigstens 25 Mark netto in der Woche, das Geld wurde wöchentlich ausbezahlt. Arbeitszeit montags bis freitags von 7 Uhr bis 19 Uhr, 20 Minuten Frühstücks- und eine Stunde Mittagspause.

In dieser Zeit lernte ich auch meinen späteren Mann Heinrich kennen, der zehn Jahre älter war als ich und in der Metallwarenfabrik Gebr. Unglaub in Zeutern-Ost arbeitete. Dort war das zweite Stockwerk an meinen Arbeitgeber, die Miederfabrik Edmund Köhler, vermietet. Das Elternhaus meines Freundes war gleich am Ortseingang, wenn man von Stettfeld nach Zeutern fuhr. So wartete er morgens bis ich mit meinem Fahrrad von Stettfeld kam und wir fuhren zusammen nach Zeutern-Ost zur Arbeit und abends wieder zurück.

Ich musste zu Hause kein Geld abgeben, aber dafür meine Aussteuer selber kaufen. Der Stoff für zwei Bettbezüge kostete damals bei einem normalen Damast um 40 Mark, für Seidendamast zahlte man um die 80 Mark.

1958 haben wir geheiratet. Die Zeiten wurden immer besser, wir konnten 1962 in unser neu gebautes Haus in Zeutern ziehen und 1966 wurde mein geliebtes „Rixe“- Fahrrad durch einen Ford 12 M ausgetauscht. Vor der Heirat gab es noch bei Pfarrer Peter Weibel an drei Abenden Eheunterricht.  An einem dieser Abende sagte er zu mir: „Jaja, Maria, ihr wart mal eine schwierige Klasse, aber du weißt es ja selber am besten.“

Wenn meine Freundin und ich heute bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen und über frühere Jahre reden, müssen wir doch feststellen, dass wir in eine schwierige Zeit mit Krieg, Armut und vielerlei Entbehrungen hineingeboren waren. In einem sind wir uns aber einig, wir hatten dies gar nicht so richtig mitbekommen, es ging nämlich allen so und nicht nur uns, so dass wir trotzdem fröhliche Kinder waren (siehe Foto)! Hungern mussten wir auf dem Lande nicht. Die meisten Einwohner hatten einen Garten und ein paar Äcker, in denen sie Gemüse, Getreide und Kartoffeln anbauten. Den Menschen in der Stadt ging es da schon schlechter, da mussten viele hungern.

Die Stettfelder Gemarkung war nicht groß, so gab es höchstens zwei bis drei größere Landwirtschaften. Die meisten waren kleine Landwirte, die vom monatlichen Milchgeld von einer Kuh und von dem Geld vom Tabakanbau leben mussten. Die einen hatten größere Äcker und Häuser als andere, aber über eines verfügten alle zusammen nicht, das war Geld, das war bei allen Menschen knapp.

Nur weil wir jetzt die Zeiten von früher und heute vergleichen können, merken wir erst richtig wie arm wir doch früher waren! Trotz allem müssen wir zufrieden sein, wenn man an die Generationen vor uns denkt, die ihr ganzes Leben in armen und schlechten Zeiten leben mussten. Ich bin dankbar, dass wir schon viele Jahre in Frieden und Freiheit leben dürfen.

Stettfeld, im Januar 2023, Maria Staudt

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