„D‘Reitschul‘ kummt, d‘Reitschul‘ kummt!!“

Geißenmarkt Stettfeld, 90-er Jahre. Foto: B. Schäfer

Einige unserer Leserinnen und Leser gehörten vielleicht zu den Kindern, die dies im Vorfeld des Stettfelder Geißenmarktes voller Freude gerufen haben. Gerade weil auch in diesem Jahr der Geißenmarkt nicht stattfinden kann, möchten wir an vergangene Zeiten erinnern, wie sich jeweils am ersten Mai-Wochenende der Marcellusplatz (früher Schulstraße) in Stettfeld in den traditionellen Geißenmarkt verwandelt hat.

Unsere 1. Vorsitzende Ursula Hohl hat dafür extra mit dem Familien-Traditionsunternehmen „Schmidt‘s Etagenkarussell“ in Mannheim Kontakt aufgenommen. Die Witwe des Eigentümers Emil Schmidt, Frau Renate Schmidt geb. Schneider, erinnert sich noch lebhaft daran, als sie Ende der fünfziger Jahre mit ihrem Lanz-Bulldog von Langenbrücken her kommend in Stettfeld eingefahren sind und eine große Schar von Kindern ihnen entgegenrannte. Der Bulldog mit dem typischen Bang, Bang, Bang seines Einzylinder-Motors war schon von weitem zu hören und so rannten auch die Kinder, die in der Schule waren, an die Fenster und riefen aufgeregt: „D‘Reitschul‘ kummt, d‘Reitschul‘ kummt!“

Die Reitschul‘ kam immer donnerstags vor dem Geißenmarkt-Wochenende. Zuvor stand sie in Altlußheim. Freitags wurde aufgebaut. Besonders aufregend war dabei das Hochziehen der schweren, langen Mittelsäule für das Karussell mit dem Lanz-Bulldog. Marktbetrieb herrschte von Samstag bis Montag.
Noch in der Nacht zum folgenden Dienstag wurde in Stettfeld die Reitschul‘ wieder abgebaut. Sie fuhr dann weiter zum Jahrmarkt nach Mingolsheim.

Frau Schmidt wusste zu berichten, dass bereits der Urgroßvater ihres Mannes, Emil Müller aus Mannheim, 1902 von einem Freund ein Pferdekarussell gekauft hat. Es war bestückt mit „Heyn“-Pferden, Kutschen und Trillergondeln. Die Beleuchtung bestand aus Carbit-, später aus Petroleumlampen. Die Decke des Karussells war mit Pailletten-Stores aus Samt dekoriert. Das Karussell wurde damals angeschoben. Erst wenn es lief, durften die Kinder aufspringen. Später wurde es von Pferden gezogen, die innen liefen, immer im Wechsel. Die Orgel der Firma Limonaire Frères wurde von Hand mit einem großen Rad angetrieben. Dies musste gleichmäßig vonstattengehen, damit die Musik auch im rhythmischen Takt zu hören war.

Ein großes Dampflokomobil zog die Transportwagen und übernahm auch ab und zu den Antrieb der Orgel. Danach wurde es von einem Lanz-Bulldog abgelöst. Die Transportwagen waren noch mit Hartgummi bereift.

Als es dann das Wunder „Strom“ gab, wurde in das Karussell ein elektrischer Antrieb eingebaut. Geregelt wurde der Gleichstrommotor mit Lake (Salzwasser), die in einen Metallkübel gefüllt war. Über dem Kübel hing an einem Seil eine Metallplatte. Trog und Metallplatte waren an die Stromquelle und an den Motor angeschlossen. Um das Karussell in Bewegung zu setzen, tauchte ein Mann die Metallplatte an dem Seil langsam in das Salzwasser. Dadurch floss Strom und der Motor drehte sich. War die Fahrt zu Ende, wurde die Platte einfach wieder hochgezogen.

In den 40er Jahren übernahm die Tochter von Emil Müller, Anna Müller, das Geschäft zusammen mit ihrem Ehemann Karl Schmidt. Über den Krieg war das Karussell in Östringen eingestellt.

Ab 1960 gab es neue Sicherheitsbestimmungen. Das doppelstöckige Karussell, auch Etagenkarussell genannt, musste vom Aufbau her verstärkt werden. Emil Schmidt, Sohn von Karl Schmidt, ersetzte den Salzwasserkübel durch eine moderne Steuerung und baute einen neuen Elektromotor ein. Auch schaffte er eine größere Orgel an: Eine 36er Ruth & Sohn Orgel. Diese war noch mit einer Okarina, einer Gefäßflöte, ausgestattet; ein Ohrenschmaus für Jung und Alt. Gesteuert wurde die Orgelmusik durch Lochkarten, die zu Stapeln gefaltet waren. Anfangs befand sich die Musikorgel in einem eigenen Wagen, später war sie im „Kassenhäusle“ eingebaut.

Ein Spaß für die Buben, aber nicht ganz ungefährlich, war, dass sie auf das fahrende Karussell aufsprangen und eine Zeitlang mitfuhren, um Geld zu sparen, bis sie vom Aufsichtspersonal vertrieben wurden; denn 10 Pfennige, später 20 Pfennige, die eine Fahrt kostete, waren damals viel Geld. Auch die Zuckerstange, je nach Geschmacksrichtung grün (Waldmeister) oder orange (Orangen), an der man viele Stunden lutschte, war mit 5 Pfennigen kostbar.

Unser Mitglied, Konrad Kröll, erinnert sich noch an seine Kindheit, als neben dem Karussell, Richtung Kirche, eine große Schiffschaukel stand. Mit dem mittleren Schiffchen war es möglich, einen vollständigen Überschlag zu machen. Wer sich das traute, musste vorher seine Füße anschnallen, damit er, wenn er am höchsten Punkt kopfüber in der Gondel hing, nicht herunterstürzen konnte.

In den sechziger Jahren kam zur Reitschul‘ und zur Schiffschaukel auch noch ein Kettenkarussell hinzu. Jetzt wurde der Platz in der Schulstraße ziemlich eng. Das Kettenkarussell musste daher nah an den benachbarten Häusern aufgebaut werden. Wenn dann die äußeren Sessel besonders hoch flogen, konnte es vorkommen, dass mit den Schuhen mal ein Dachziegel losgerissen wurde.

Montags nach der Maiandacht war besonders viel los. Die Leute standen Schlange am Kassenhäuschen und das Karussell war immer voll besetzt. Besonders beliebt bei den Erwachsenen waren die Schiffe in der oberen Etage. Auf dem Heimweg wurde dann meist noch eine Tüte mit Magenbrot, Waffeln oder anderen Süßigkeiten mitgenommen.

Ende 2009 übernahm der Sohn Peter von seinem Vater Emil Schmidt in vierter Generation das Geschäft. Dankbar erinnert sich Frau Schmidt, dass die Anwohner der damaligen Schulstraße ihre Familie und die Arbeiter kostenlos mit Essen und Getränken versorgten. Von morgens bis abends standen Krüge mit Most oder Wein vor dem Tor. Letzteres bereitete ihr manchmal Stress, denn sie musste aufpassen, dass die Arbeiter nicht zu viel davon genossen. Auch bei notwendigen Reparaturen halfen Handwerker aus der Nachbarschaft manchmal aus. Die Kinder der Anlieger bekamen für diese Gastfreundschaft begehrte Freifahrtkarten. Ihr Mann Emil kannte die Anwohner alle mit Vornamen. Er sprach z. B. viel von Alois, Franz, Karl und Otto. Bis heute kennt sie die Nachnamen dieser Männer nicht.

Am 12. Mai 1950 berichtete die „Bruchsaler Post – Heimatblatt für Kraichgau und Bruhrain – Südd. Heimatzeitung“ über den Geißenmarkt Folgendes: „Der „Geißenmarkt“ wurde in den späten Abendstunden des 9. Mai beendet. Karussell und Schiffschaukel liefen seit Samstagnachmittag fast immer auf Hochtouren und boten Jung und Alt die immer wieder beliebte Belustigung in reichstem Maße, der zuschauenden „Alten Garde“ aber Erinnerungen an vergangene Zeiten. Am Sonntag herrschte auf dem Marktplatz und in den Gasthäusern dank des prächtigen Wetters und der zahlreichen Besucher aus den Nachbargemeinden richtiger Betrieb. Im Gegensatz zu oben erwähnten Jahrmarktsvergnügen machten die vielen, wohl friedensmäßig stark vertretenen Verkaufsstände „zeitgemäße“ Geschäfte.“

Dass der Geißenmarkt am ersten Wochenende im Mai stattfand war aber nicht immer so. Im 19. Jahrhundert wurde der Markttermin, der immer am zweiten Dienstag nach Ostern stattfand, noch mehrmals verschoben, zunächst auf Martini im November, später schließlich dann auf den ersten Sonntag im Mai.

Der Geißenmarkt hat eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition. Die älteste Urkunde darüber befindet sich im “Liber officium” des Bischofs Ludwig von Helmstatt aus den Jahren 1487 bis 1503. Allerdings wird bereits bei der Bestallung des Waldfautes (Vogt) Bernhard Billing im Jahre 1412 berichtet, dass er das Standgeld auf dem Markt zu “Stettfelden” einzuziehen hat. Unterlagen über den „Odama Geißamarkt“ lassen vermuten, dass das Marktrecht nach Stettfeld veräußert worden sein soll. Deshalb wohl auch der Name „Geißenmarkt“.

Handelsleute und Gewerbetreibende aus der ganzen Region waren auf dem Markt vertreten. Schuh- und Eisenwarenhändler, Nagel- und Messerschmiede, Korb- und Kübelmacher, Seiler und Sattler, ja selbst Zuckerbäcker und Hersteller von Gelatinewaren bestimmten das reichhaltige Sortiment des zwei Tage währenden Marktes. Vielleicht wurden dort früher auch Geißen und andere Tiere verkauft.

Der Markt war für die Menschen im Dorf ein ganz besonderes Ereignis im Jahr. Sonntags kamen Verwandte aus der Umgebung zu Besuch. Es wurde ein neuer Hut, eine neue Kleiderschürze oder ein neuer Wetzstein für die Sense gekauft. Bei entsprechendem Wetter durften die Kinder zum ersten Mal ihre Sommerkleider anziehen. Sie bekamen „Marktgeld“, das für die drei Tage sorgfältig eingeteilt werden musste.

Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte der Stettfelder Geißenmarkt mehr und mehr Rummelplatzatmosphäre mit Boxautos, Losständen, Schießbuden, Imbissständen und Spielautomaten. Inzwischen besitzt der traditionelle Geißenmarkt längst einen volkstümlichen Unterhaltungswert. Stettfelder Vereine bewirten vorzüglich ihre Gäste, Live-Musik nicht zu vergessen. Auch das historische Römermuseum hat an diesen Tagen bei freiem Eintritt geöffnet. Ebenso hält die Stettfelder Geschäftswelt ihre Türen für Interessierte offen und es gibt einen Flohmarkt. Und die namensstiftenden Geißen durften sich auf viele Streicheleinheiten freuen. Autoliebhaber kamen bei der Lomax-Ausstellung mit den verschiedenen Bausatz-Autos auf der Basis von Citroen 2 CV ebenfalls auf ihre Kosten.

Hoffen wir, dass die Schaustellerfamilien bald wieder eine wirtschaftliche Perspektive haben und der Marcellusplatz und die Lußhardtstraße sich bald wieder in eine Flaniermeile beim Stettfelder Geißenmarkt verwandeln können – zur Freude der kleinen und großen Besucher.

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