Landvermessung in unserer Gemeinde um 1825

Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv H Baden, (Land) 6, Bild 54. Permalink

Die Welt des Traums ist ebenso wenig fassbar wie die Bemühungen um einen flüchtigen Blick in die Zukunft. Schauen wir aber auf geschichtliche Vorgänge, finden wir eine Fülle von zuverlässigen Hilfen in der einschlägigen Literatur und in den modernen Medien. Die Bildwelten des Landesarchivs Baden-Württemberg sind mit ihren über 15 Millionen digitalen Reproduktionen von Archivalien eine Quasi-Liveschaltung in die Vergangenheit und erlauben kostenfrei per Internet für alle Bürgerinnen und Bürger Überraschungsmomente der besonderen Art, eben jene Momente, die uns unvermittelt das besondere Gefühl ermöglichen, vergangene Zeiten zeitnah zu erleben.

Die üppige Bilderflut unserer Zeit verführt uns meist zum flüchtigen Blick. Bewusstes Sehen als Ergebnis eines harmonischen Vorgangs rechten Betrachtens und genauen Hinsehens gelingt eher selten, unerkannt bleiben gewöhnlich das Spiel des Tageslichts, das Weglassen von Unwichtigem und letztlich die damit einhergehende Kunst, eine dreidimensionale Landschaft auf eine zweidimensionale Fläche „zu zaubern“. Dies alles besonders beim Zeichnen vor der Natur.

Zeichnen vor der Natur (also nicht im Atelier) war und ist eine Sonderform des Dokumentierens, sei es künstlerisch-kreativ ausgeschmückt oder nüchtern-sachlich der natürlichen Vorgabe verpflichtet, wie beispielsweise in den zahlreichen „Bleistiftzeichnungen von Gebäuden, die bei der Landesvermessung als Hochpunkte verwendet wurden, 1. April 1825 – 30. September 1825“ (GLA 4-1674361, Land Baden. Zeichnungen der Hochpunkte Band VI). Diesen überraschenden und spannenden Zufallsfund machte der ehemalige Lehrer und Kunsterzieher Ulrich Grande, Gründungsmitglied des Heimatvereins Ubstadt-Weiher, und lässt uns an seiner Entdeckerfreude durch seine Ausführungen Anteil nehmen. Dafür ein herzliches Dankeschön!

Das Land Baden hatte sich 1803 zum Großherzogtum neu formiert und allein linksrheinisch 61 ¾ Quadratmeilen mit über 250 000 Einwohnern hinzugewonnen. Eine Vielzahl von Veränderungen ergaben sich ebenfalls auf rechtsrheinischem Gebiet, das Hochstift Speyer war säkularisiert und neue Gebiete galt es exakt zu vermessen und zu kartieren. Mittels der Triangulation (Dreiecksaufnahme zur Landvermessung) wurde ein sogenanntes „trigonometrisches Netz“ (Netz aus Dreiecken) erstellt. Hochpunkte wurden festgelegt, dies waren meist die Spitzen von Kirchtürmen (es galt häufig der Knauf unter dem Kreuz) und andere deutlich sichtbare Punkte auf hohen Gebäuden, ferner Gipfelkreuze, markante Landschaftsformationen, Felsvorsprünge etc. Diese Hochpunkte wurden zeichnerisch mittels einer authentischen Bleistiftzeichnung dokumentiert, die Fotografie war ja noch nicht erfunden!

Ein glücklicher Zufall dieses geschichtlichen Sachverhalts reihte auch die Turmspitzen unserer Kirchen von Ubstadt (gezeichnet am 19. 6. 1825), Stettfeld (gezeichnet am 19. 6. 1825) und Weiher (gezeichnet am 20. 6. 1825) in die lange Liste (ca. 186 Digitalisate) der dafür verwendeten Örtlichkeiten ein. Zeutern ist in den zahlreichen Gemeindenamen leider nicht aufgeführt, vermutlich ergab sich kein Sichtkontakt der alten St. Martinskirche zu benachbarten Kirchturmspitzen. Beim genaueren Betrachten der exakten Bleistiftzeichnungen ergeben sich einige spannende Überraschungen. Die Ubstadter katholische Pfarrkirche St. Andreas zeigt u.a. noch die originale barocke Südfront, das Langhaus ist noch verkürzt. “Bedeutsam ist, dass hinter diesem Bau die kunstverständige Persönlichkeit Schönborns steht, mit dessen Hilfe die Ubstatter anscheinend ihren Prozeß gegen das St. Germansstift siegreich durchführten“ (Hans Rott, 1913). Die Kirche wurde durch Fürstbischof Kardinal Schönborn am 26. April 1739 geweiht (Festschrift Kath. Pfarrkirche St. Andreas Ubstadt 1739 -1989).

Die katholische Pfarrkirche St. Marcellus in Stettfeld finden wir noch in ihrer alten Gestalt als gotische Pfarrkirche (1356 erwähnt, Erweiterung 1891). „Der alte gotische Chor, in drei Seiten eines Achtecks endigende und von Sockel und Kaffgesims umschlossene Chor wird außen von zweimal abgetreppten, spätgotischen Strebepfeilern gestützt…“ (Hans Rott, 1913).

Für die katholische Pfarrkirche St. Nikolaus in Weiher gilt ähnliches, auch hier noch ohne den quer zum alten Langhaus errichteten Erweiterungsbau und in schlichter Art und Weise ausgeführt. „Den im Dreiachtel schließenden alten Chor mit zweifach abgetreppten Strebepfeilern umgibt ein an den Ecken sich verschneidendes Kaffgesims und ein einfacher Schrägsockel“ (Hans Rott, 1913).

Womöglich fand die wohlverdiente Mittagsrast im Gasthaus zum Ritter in Weiher mit einem guten Wein örtlicher Winzer einen kulinarischen Höhepunkt. Immerhin beflügelten die Segnungen dieses Tropfens zu zeichnerisch-phantasievollen Ausschweifungen auf der Choraußenwand. Diese dürften wohl nicht originale Bausubstanz gewesen sein. Vielmehr könnten hier die stillen Sehnsüchte der insbesondere deutschen Künstler zum Tragen kommen, die um 1825 die üblichen Studienreisen nach Italien zum Standardrepertoire aller Kunstschaffenden machten.
Nach der Signatur fertigte der Zeichner acht beeindruckende Arbeiten am 19. 6. 1825 an: in Untergrombach, Weingarten (2), Bruchsal (3), Ubstadt und Stettfeld. Am 20.6.1825 sind es dann zehn Zeichnungen!

Im Dunkeln bleibt die Persönlichkeit des bewundernswerten Zeichners des Großherzoglich badischen militärisch-topographischen Bureaus. Die Erfassung eines vorgegebenen Objekts, die konzentrierte Reduktion der Linien auf der Zeichenfläche, das bewusste Weglassen schmückenden Beiwerks, die Entdeckung einer typisch-charakteristischen Sicht, die Konstruktion von Licht-Schattenbeziehungen und die verantwortungsvolle Umsetzung von Bildsicht und Bildwirkung formen ein komplexes Bildwerk, dessen ästhetische Bewältigung nur der Attitüde des Künstlers gelingt.

Uns bleibt der dankbar-bescheidene, dennoch spannende Blick in die Junitage 1825, in denen unsere engere Heimat neu vermessen und kartiert wurde, zumindest unsere Kirchen zweifelsfrei durch feine Bleistiftzeichnungen für alle Landvermesser u.a. wieder erkennbar waren.

 
Literatur:
Hans Rott, Die Kunstdenkmäler des Großherzogtums Badens, Bd.9, Karlsruhe, Abt.2, Amt Bruchsal, 1913.
Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA KA).
Richard Bellm, Schwetzinger Skizzenbuch, Schwetzingen, 1966.
Festschrift Katholische Pfarrkirche St. Andreas Ubstadt 1739 -1989.

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